Freie Schule Charlottenburg


Presse/Artikel

Artikel Zeitschrift "SEIN", Juli 2009

Wo die Kinder fliegen lernen - Schule auf neuen Wegen

Lernen aus innerer Motivation und nicht, weil es der Lehrplan vorschreibt - mittlerweile Alltag in der Schule für freies Lernen in Charlottenburg. Johannes Stöckel und Barbara Musset beschreiben den „kleinen“ Unterschied zwischen freier Selbstentfaltung und der Anpassung an ein Gesellschaftskorsett.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem Bildung und Schule und speziell die Berliner Schulen nicht Thema in den Medien sind. Dabei sind marode Schulgebäude, Schulangst oder Schulverweigerung, Mobbing und andere Formen der Gewalt sowie Unzufriedenheit von Arbeitgebern mit den Kompetenzen von Schulabgängern nur einige von vielen Problemen. Da verwundert es nicht, dass die Gründung von Schulen in privater Trägerschaft boomt. Derzeit sind es 80 bis 100 pro Jahr allein in Deutschland.
Der Journalist Reinhard Kahl beschreibt in der Wochenzeitung „Die Zeit“ die Motivation der Schulgründer wie folgt: „Es sind Eltern, die in ihren Berufen ständig Lösungen für unvorhersehbare Probleme finden müssen, aber bei ihren Kindern erleben, wie diese in der Schule noch immer Dienst nach Vorschrift lernen und dabei ihre Neugier verlieren. Es sind Eltern, die nicht mehr daran glauben, dass die staatlichen Schulen vom Belehren zum Lernen-Lehren umschwenken. Sie wollen keine Paukzentralen, sondern kreative Räume, die ihre Kinder zum Lernen verführen anstatt sie zum Büffeln zu zwingen.“

Schule auf neuen Wegen
Diese privaten Schulen in freier Trägerschaft können ganz unterschiedliche pädagogische Konzepte als Grundlage haben. Die bekanntesten unter ihnen sind wohl die Waldorf- und Montessori-Schulen. Darüber hinaus werden immer häufiger Schulen gegründet, die weit größere Freiräume für selbstbestimmtes Lernen geben wollen. Dies sind zum Beispiel die Sudbury-Schulen (TING-Schule Berlin, Neue Schule Hamburg), die nach basisdemokratischen Regeln funktionieren, oder auch Schulen nach dem Vorbild des Pesta, dem weltweit bekannten Schulprojekt von R. und M. Wild in Ecuador.
Ein solches Projekt ist zum Beispiel die Freie Schule Charlottenburg, die seit mehr als fünf Jahren als staatlich genehmigte Ersatzschule arbeitet. Worin sehen die verantwortlichen Pädagogen dieser Schule die Unterschiede zu einer staatlichen Regelschule? „Es gibt bei uns keine geschlossenen Klassenzimmer, sondern offene Räume und ein Außengelände, wo durch die Ausstattung und Gestaltung vielfältige Betätigungen ermöglicht werden. Dazu gehören vor allem: viel Bewegung, Turnen, Erkunden, Experimentieren, Basteln, Werken, Töpfern, Bauen, Rollenspiel, Theater, Kochen, Rechnen, Schreiben, Lesen, Gespräche/Diskussionen, Tätigkeiten des täglichen Lebens. Bei uns gibt es keinen Unterricht. Die Kinder können frei entscheiden, was sie wann, wie, wo und mit wem tun möchten. Es gibt keine Klassenarbeiten und keine Benotung von Leistungen. Die moderne Hirnforschung hat längst bestätigt, dass die Wichtigkeit des sensomotorischen Lernens im Grundschulalter lange unterschätzt wurde. In Berlin werden die Kinder heute bereits mit fünf Jahren eingeschult. In diesem Alter ist Lernen ohne Anfassen und ohne Bewegung eine Qual für die Kinder und hat keinerlei Nachhaltigkeit.“

Lernen ohne Unterricht
Lernen erfolgt sozusagen „spielend“. Jedes Kind kommt mit einem Entwicklungspotenzial und einem natürlichen Forscherdrang auf die Welt. Es strebt danach, dieses Potenzial zu verwirklichen, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und zu kommunizieren, seine körperlichen, emotionalen und geistigen Fähigkeiten zu entwickeln und zu schulen, die Eigenschaften und Qualitäten der Umwelt zu erkennen und Zusammenhänge zu begreifen. Um dies zu erreichen, sucht es konkrete Erfahrungen mit der Umwelt, sucht sich selber Aufgaben und Herausforderungen, an denen es wachsen kann. Es orientiert sich zwar an Vorbildern, bildet sich aber selbst. Der Motor dafür sind seine persönlichen Erfolge und die Freude daran, Neues zu entdecken. Diese „innere“ Motivation liegt in jedem Menschen, sie ist die größte Motivation (zum Lernen), die wir kennen. Je jünger Kinder sind, desto „spielerischer“ wirkt dieser Prozess der Selbstwerdung und Selbstentfaltung. Die Erfahrungen vieler Eltern und Lehrer scheinen allerdings eher dagegen zu sprechen, dass sich Lernen spielerisch und ohne äußere Motivation vollzieht. Doch die Art, wie Kinder von selbst das Laufen oder ihre Muttersprache erlernen, ist durchaus von Leichtigkeit gekennzeichnet. Die Problematik des herkömmlichen und derzeit noch weit überwiegenden Schulverständnisses und der Schulpraxis besteht darin, dass Kindern weitgehend vorgeschrieben wird, was sie jeweils gerade lernen sollen und was sie dafür zu tun haben. Damit wird die natürliche Motivation der Kinder erheblich geschwächt oder gar zerstört und das Lernen zur Pflicht und einem Akt der Dressur degradiert.
Eine große Rolle spielt natürlich auch das persönliche Umfeld des Kindes. Wie viel Energie ihm zum Lernen zur Verfügung steht, hängt davon ab, ob seine natürlichen Bedürfnisse befriedigt werden und wie viel Liebe, Respekt, Geborgenheit und Sicherheit es erfährt. Das Verhalten eines Kindes, egal welcher Art, stellt immer die natürliche Reaktion auf sein Umfeld dar, ist also auch Ausdruck seiner Probleme bzw. der Versuch ihrer Lösung oder Kompensierung. Der renommierte Schulreformer Hartmut von Hentig drückt es klar aus: „Wir müssen es erst mit den Lebensproblemen der Schüler aufnehmen, bevor wir ihre Lernprobleme lösen können.“

Die Schule als therapeutische Einrichtung?
Einige der Schüler, die unsere Freie Schule in Charlottenburg besuchen, sind tatsächlich Kinder, die an anderen Schulen nicht zurechtgekommen sind. Dafür gab es unterschiedliche Gründe, aber eindeutig keine mangelnde Begabung. Wir betrachten die Kinder nicht als Wesen mit Fehlern und Defiziten, die es zu beseitigen gilt, sondern lassen ihnen Zeit und Raum, Zugang zu sich selbst zu finden. Wir erwarten allerdings von allen Eltern, dass sie sich mit unserem Konzept und seinen Hintergründen beschäftigen, Bereitschaft zeigen, sich mit ihrer familiären Situation auseinander zu setzen und keinen (Leistungs-)Druck auf ihre Kinder ausüben.
Wie kommt das Wissen nun zum Kind, und was sind an einer solchen Schule die Aufgaben der Lehrer? Die Lehrer sind für die Pflege und den Ausbau der „vorbereiteten Umgebung“ (M. Montessori), also des gesamten Materialangebots, verantwortlich. Sie dokumentieren die Entwicklung der Kinder und stehen ihnen bei allen Tätigkeiten, Fragen, Problemen und Konflikten unterstützend zur Verfügung, falls dies erforderlich oder von den Kindern gewünscht ist.
Ein Beispiel: Zwei Jungen (fünf und sechs Jahre) betrachten ein Buch über Haifische. Sie erzählen sich gegenseitig, was sie schon wissen und welche Phantasien die Bilder in ihnen auslösen. Schließlich – sie haben bis dahin ununterbrochen ihre Wahrnehmung durch Bildbetrachtung, ihre sprachliche Ausdrucksfähigkeit und ihr Verständnis der Formulierungen eines anderen geschult – wünschen sie, dass ein Lehrer Passagen aus dem Buch vorliest. Diese enthalten die Aussage, dass ein ausgewachsener Katzenhai eine Länge von 60 Zentimetern erreicht. Die Jungen möchten wissen, wie lang das ist, also wird ein Bandmaß geholt. Auf diese Weise erfahren die Kinder – nicht unbedingt zum ersten Mal – dass Größen durch Maßzahlen und Einheiten beschrieben werden können. Das Wissen, wie lang ein Katzenhai wird, wird mit einer konkreten Vorstellung davon verknüpft, wie lang 60 Zentimeter sind.
Nur auf der Grundlage einer Vielzahl solcher Erfahrungen fällt es Kindern dann später leicht, mit Größen und Einheiten zu rechnen. Für solche praktischen und eigentlich fast immer fachübergreifenden Lerneinheiten ließen sich in unserem Schulalltag viele hundert Beispiele finden.
Die Schüler der höheren Klassen erweitern ihr Feld der Wissensaneignung dann deutlich. Sie nutzen zum Beispiel Medien, Exkursionen, Besuche bei Firmen und viele andere Möglichkeiten, um das zu erfahren, was sie interessiert. Die Kinder sind erfinderisch, wenn sie selbstständiges Lernen gewohnt sind.
Lernen – vor allem im Grundschulalter – ist nur nachhaltig, wenn es erfahrungsbasiert ist. Schule muss sich daher von einer Lehranstalt in einen Lebensraum für Kinder wandeln, in einen Ort, den sie morgens gerne aufsuchen und nachmittags ungern verlassen.


Autoren:
Johannes Stöckel
Barbara Musset




Datenschutz
Impressum

zum Seitenanfang